Veränderungen: Warum Sinn Dringlichkeit sticht

Dass es wichtig ist, bei Veränderungen in Organisationen deren Sinn zu vermitteln, leuchtet unmittelbar ein. Aber warum ist es dabei keine gute Idee, die Dringlichkeit von Veränderungen zu betonen? Schließlich ist Dringlichkeit der erste von John P. Kotters berühmten acht Schritten. Und warum kann sie teilweise sogar sehr schädlich sein? Schauen wir uns an, was passiert, wenn Veränderung auf Mensch trifft.

Veränderungen sind mühsam. Jeder hat es es schon erlebt, dass es einer gewissen Anstrengung bedarf, um gewohnte und bisweilen lieb gewonnene Routinen zu verlassen und etwas Neues auszuprobieren. Und insbesondere bedarf es auch einer gewissen Aufmerksamkeit und Energie, um nicht bei nächstbester Gelegenheit wieder ins alte Muster zurückzufallen.

Das Gehirn ist ein Gewohnheitstier

Warum das so ist? Unser Gehirn bevorzugt eingespielte Prozesse. Und es ist faul! Es liebt den Autopilotmodus, in dem es keiner großen Anstrengung bedarf, um Dinge zu erledigen. Solange Abläufe halbwegs funktionieren und allzu große Monotonie noch nicht unsere Stimmung drückt, gibt es keinen Grund, etwas anders zu machen oder unsere gewohnte Umgebung zu verlassen.

Hinzu kommt, dass alles Neue mehr oder weniger als potenzielle Bedrohung erlebt wird. In fremden Städten oder mit neuen Kollegen verhalten wir uns wachsamer und vorsichtiger als in der gewohnten Umgebung mit den alten Kumpels.

Auf der anderen Seite gibt es unsere Bedürfnisse. Um diese zu erfüllen sind wir bereit, allergrößte Herausforderungen zu bewältigen. Man denke an die Anerkennung oder auch persönliche Genugtuung, die jemand durch die Teilnahme an einem Iron Man erfährt. Oder durch das Schreiben eines Buchs. Es gibt unzählige Beispiele. Das bezeichnet man auch als Motivation, also das, was uns in Bewegung bringt.

Lustgewinn und Unlustvermeidung

Neben positiven Anreizen, gibt es natürlich auch starke negative Anreize, um einer Gefahr zu entkommen, auch wenn es nur eine gefühlte Gefahr ist. Unser Gehirn kann das nicht unterscheiden. Unsere Realität ist immer unsere erlebte Realität. Die Evolution hat uns dafür mit einem überaus hilfreichen Tool versorgt, der Stressreaktion. Die Stressreaktion ist entwicklungsgeschichtlich sehr alt. Sie ermöglicht unserem Organismus, alle Ressourcen zu aktivieren, um einer Gefahr - früher etwa einem Säbelzahntiger - zu entkommen.

Allerdings ist sie eben nur in bestimmten Kontexten hilfreich, in anderen eher hinderlich oder gar gefährlich. Dazu später mehr.

Halten wir fest: Es gibt positive und negative Anreize, um unser Verhalten oder eine Situation zu verändern. Bei positiven Anreize bewegen wir uns mental oder physisch auf etwas zu, um eines oder mehrere unserer Bedürfnisse zu erfüllen (Lustgewinn). Bei negativen Anreizen bewegen wir uns von etwas weg, um eines oder mehrere unserer Bedürfnisse nicht zu gefährden (Unlustvermeidung). Mit „Hin zu“ reagiert unser Gehirn auf Belohnung, mit „Weg von“ auf Bedrohung.

Individuelle Bedürfnisse können sehr unterschiedlich sein. Wesentliche Bedürfnisse, die den meisten Menschen gemeinsam sind, fasst David Rock in seinem SCARF-Modell zusammen: Status, Certainty, Autonomy, Relatedness und Fairness. Ergänzend möchte ich noch Sinn hinzufügen, denn laut Daniel Pink ist Sinn neben Autonomie und Könnerschaft einer dieser drei wesentlichen Motivationsfaktoren.

Dringlichkeit erzeugt Aufmerksamkeit

Warum ist nun es keine gute Idee, die Motivation für Veränderungen über Dringlichkeit zu erhöhen. Schauen wir uns zunächst Kotters Überlegungen an:

Kotter hat die Erfahrung gemacht, dass sich Unternehmen häufig auf vergangenen Erfolgen ausruhen. Er nennt dies Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit.

Da, wo in großen Teilen eines Unternehmens - und ganz besonders im Top-Management - diese Einstellungen vorherrschen, wird kein erfolgreicher Wandel stattfinden. Change-Initiativen werden - sofern sie überhaupt gestartet werden - nach kurzer Zeit wieder ins Stocken geraten.

Dem soll durch die Betonung für Dringlichkeit entgegengewirkt werden. Das klingt zunächst nach einer sehr vernünftigen Idee. Wenn ich merke, dass mein Haus brennt, werde ich sofort alles unternehmen um zu retten, was zu retten ist. Maximale Motivation.

Kotter führt auch sehr viele einleuchtende Punkte an, die das Bewusstsein für die Dringlichkeit fördern. U.a. plädiert er für ehrliche Diskussionen aufgrund von wirklich relevanten Daten, für Transparenz und direkte Kommunikation mit unzufriedenen Kunden.

Als Anreiz nennt er allerdings auch unrealistisch hohe Zielvorgaben, die nicht durch die normale Arbeit erreicht werden können. Dies verbindet er damit, allen Geschäftseinheiten mit Veräußerung oder Schließung zu drohen, wenn sie nicht innerhalb von 24 Monaten Marktführer oder Nummer zwei in ihren Märkten werden. Oder 50% der Vergütung für leitende Angestellte von strengen Zielvorgaben für die Produktqualität abhängig zu machen.

Aufmerksamkeit alleine genügt nicht … und ist oft sogar kontraproduktiv

Leider ist es in den meisten Unternehmen so, dass bei der Vermittlung von Dringlichkeit vor allem Letzteres die Regel ist. Es wird immer noch häufig mit Angst und Druck gearbeitet. Angst vor Jobverlust, wenn leitende Angestellte es nicht schaffen, die Vorgaben zu erfüllen. Androhung von persönlichen Konsequenzen, wenn die Ziele nicht erreicht werden. Sicherlich war es nicht Kotters Absicht, nur darauf zu fokussieren. Aber es ist in vielen Unternehmen die Realität.

Nun ist die Angst vor Jobverlust in Krisenzeiten auch nicht unbegründet und naheliegend. Außerdem weist Kotter darauf hin, dass sichtbare Krisen enorm hilfreich sein können, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu gewinnen und die Dringlichkeitsstufe zu erhöhen.

Diese Angst ist also in Krisenzeiten schon da. Wenn Führungskräfte sie noch verstärken, gewinnen sie damit sicherlich Aufmerksamkeit. Nur ist das leider nicht hilfreich und oft sogar schädlich. Denn was sind die Auswirkungen? Wozu führt das?

Bei erlebter Bedrohung fahren wir mental in den Keller

Auf Bedrohung, ganz egal ob echt oder gefühlt, reagieren wir mit Stress. Das heisst, unser Organismus aktiviert alle Ressourcen um der Bedrohung zu entkommen. Nur sind diese Ressourcen noch nicht an unser modernes Leben angepasst. Wie in Urzeiten dient die Stressreaktion dazu, unseren Körper blitzschnell auf Kampf vorzubereiten oder - wenn das aussichtslos ist - schnellstmöglich auf den Baum zu bringen, um der Bedrohung zu entkommen. Komplexe Betrachtungen über den Sinn und Zweck von Bäumen helfen da wenig.

Der Hirnforscher Gerald Hüther macht dies mit seinem Aufzugmodell deutlich. Bei Stress verlassen wir die oberen Ebenen, wo unser komplexes Denken angesiedelt ist und fahren in den Keller, wo es ganz unten nur noch Kämpfen, Flucht und Totstellen gibt.

Abgesehen von den negativen Auswirkungen von Stress auf unseren Körper - wie hilfreich kann es denn in unserem komplexen Arbeitsumfeld sein, wenn die Denk- und Reflexionsfähigkeit des Menschen eingeschränkt ist? Ganz anders als bei der Flucht vor dem Säbelzahntiger sind in der modernen Arbeitswelt komplexes Denken, Kreativität, und Reflexionsfähigkeit erforderlich.

Sinnerleben aktiviert sowohl Aufmerksamkeit als auch komplexe Denkfähigkeiten

Statt dieses Gefühl der Bedrohung noch zu verstärken, sollten Führungskräfte dem also entgegen wirken. Allein die Aufmerksamkeit zu gewinnen ist wenig hilfreich - wir brauchen auch einen aktiven Neo-Kortex, also den Teil unseres Gehirn, wo komplexe Denkfähigkeiten angesiedelt sind .

Von daher: Nichts motiviert Menschen mehr, und zwar auf eine positive Art und Weise, als das persönliche Sinnerleben einer Tätigkeit oder eines Ziels. Dies löst eine starke „Hin-zu-Bewegung“ aus. Wissenschaftlichen Studien zufolge geht das Erleben von Sinn einher mit mehr Gewissenhaftigkeit und mehr Engagement. Es hilft, souveräner mit negativem Stress umzugehen und steigert sogar die Resilienz.

Kann individuelles Sinnerleben gefördert werden?

Die Frage ist jetzt, wie kann der Sinn einer Veränderung so vermittelt werden, dass er für den einzelnen Mitarbeiter anschlussfähig ist? Sinn ist ein individueller Konstruktionsprozess. Wenn wir eine Veränderungen so erleben, dass wir sie nicht verstehen oder sie sogar mit mit unseren Beliefs und Werten kollidiert, wird diese als Bedrohung erlebt und es wird keine positive emotionale Bewertung stattfinden.

Eine einfache linear-kausale Antwort gibt es auf diese Frage nicht. Um wirklich Sinn zu vermitteln, braucht es dazu mehr als ein paar Powerpointfolien oder schicken Seiten im Intranet.

Allerdings ist es durchaus möglich, den individuellen Konstruktionsprozess zu unterstützten und fördern.

Eine Voraussetzung dafür ist, dass bei den Mitarbeitern das Grundbedürfnis nach Orientierung und Sicherheit erfüllt ist. Diskussionen über anstehende Veränderungen müssen in einer angstfreien Umgebung stattfinden. Die Mitarbeiter müssen psychologische Sicherheit erleben. D.h. dass niemand negative Konsequenzen, und seien es auch „nur abschätzige Blicke“, zu befürchten hat, wenn sie oder er eine Veränderung nicht versteht oder eine andere Meinung vertritt. Wertschätzung sowie Respekt im Umgang miteinander sind essentiell. Das müssen Führungskräfte vorleben.

Änderungen gemeinsam gestalten - was heißt das?

Noch besser ist es, wenn Veränderungen zusammen mit den Mitarbeitern gestaltet, eingeführt und bewertet werden. Dabei bedeutet gemeinsame Gestaltung nicht, dass immer alle Mitarbeiter in einem großen Raum zusammenkommen, und gemeinsam diskutieren. Das würde in größeren Unternehmen gar nicht funktionieren und wäre extrem zeitaufwendig. Und auch virtuelle Räume wären keine Lösung.

Der wesentliche Aspekt ist, dass in der Organisation Raum zum Lernen und eine Durchlässigkeit von unten nach oben geschaffen wird. Mitarbeiter brauchen die Möglichkeit, an Veränderungen je nach ihren Bedürfnissen, ihren Fähigkeiten und ihrem Wissen mitzuwirken. Freiwilligkeit ist ein entscheidender Punkt. Manche werden intensiv an der Formulierung und Umsetzung mitwirken, andere liefern wertvolles Feedback. Wichtig ist, dass die Möglichkeit besteht, sich auf allen Hierarchieebenen einzubringen. Ziele auf einer Ebene vorgeben und deren Umsetzung der Ebene darunter zu überlassen, ist nicht damit gemeint.

Der Aufwand lohnt sich

Änderungen, die so gestaltet und umgesetzt werden, zeichnen sich durch eine wesentlich höhere Qualität aus, da ein breiter gefächertes Detailwissen einfließt. Es gibt keinen besseren Weg, um Missverständnisse zu vermeiden, als gemeinsam an einer Sache zu arbeiten. Solange wir nur darüber reden, können wir komplett unterschiedliche Dinge meinen, ohne es zu merken.

Weiterhin stoßen so geschaffene Veränderungen auf eine höhere Akzeptanz bei der Umsetzung. Wenn Kolleginnen oder Kollegen, mit denen ich schon lange gut zusammenarbeite, von einer Sache überzeugt sind, bin ich eher geneigt, mich dem anzuschließen, als wenn die Veränderung ausschließlich von Führungskräften vermittelt wird.

Bei der gemeinsamen Gestaltung von Veränderungen kann der einzelne Mitarbeiter seine eigenen Stärken einsetzen und erfährt auf diese Art und Weise Wertschätzung für seine Erfahrung. Das gemeinsame Arbeiten an Veränderungen sorgt für ein positives Gemeinschaftserleben und und unmittelbares Sinnerleben.

Auf den ersten Blick mag die gemeinsame Gestaltung von Veränderungen als recht aufwendig erscheinen. Man muss aber auch sehen, was man dadurch gewinnt: Höhere Qualität, bessere Akzeptanz und mehr Nachhaltigkeit. Unter Berücksichtigung aller Folgekosten von gescheiterten Veränderungen ist unter dem Strich der Gesamtaufwand sogar wesentlich geringer.

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